Das graue Weibchen
Zwischen Hintermeilingen und Heckholzhausen – nicht weit vom Kerkerbach entfernt – stand einst auf einem hohen Hügel eine stolze Burg. Der Ritter dieser Burg hatte eine wunderschöne Tochter, die auf den Namen Walhilde hörte und eine geschickte Jägerin war. Ihre Kühnheit und Schönheit blieb dem Ritter Udo von der Gleisenburg nicht verborgen. So wich er ihr bei den häufigen Jagdvergnügen nicht von der Seite. Die schöne Walhilde aber hatte nur Spott für ihren Verehrer übrig. Auf seine Aufwartungen antwortete sie nur: „Nicht eher nehm´ ich dich zum Manne, bis ich grau wie Asche bin!“. Udo aber war so zornig über die Zurückweisung, dass er Walhilde verfluchte und sich von einem Berg hinab in den Kerkerbach stürzte. Kaum waren die Lebensgeister aus Udos Körper gewichen, verwandelte sich die schöne Walhilde in ein altes graues Weibchen und anstelle eines Herzens trug sie nun einen Eisklumpen in ihrer Brust. Selbst die stolze Burg mit all ihren Bewohnern verschwand. So wandelte sie um im Wald zwischen Hintermeilingen und Heckholzhausen auf der Suche nach ihrer Burg.
Doch das graue Weibchen kann erlöst werden.
Einmal in hundert Jahren wächst ein Baum aus den Trümmern der Burg. Derjenige, der als Neugeborener in eine Wiege aus dem Holz dieses Baumes gelegt wird, kann das graue Weibchen von seinem Schicksal erlösen. Er muss Walhilde nur über die linke Schulter schauen, ohne Furcht vor dem zähneflechtenden Gerippe Ritter Udos.
Lebt in einem der Häuser am Fuße des Hügels jemand, der in der Holzwiege gelegen hat, kommt das graue Weibchen solange bis der besagte gestorben ist und schaut die Bewohner des Hauses mit traurigen Augen an.
Einmal aber traute sich ein Wanderer dem grauen Weibchen über die Schulter zu schauen, worauf dieses anfing zu niesen. Der Wanderer entgegnete: „Helf dir Gott.“ Als das graue Weibchen zum dritten Mal wurde der Wanderer ungehalten und sagte: „Wenn Gott dir nicht helfen will, so soll es halt der Teufel tun.“ Da versank das graue Weibchen langsam im Erdboden und rief dem Wanderer zu: „Hättest du deinen Wunsch nur dreimal wiederholt, wäre die Burg wieder da und alles würde dir gehören.“ Das graue Weibchen wurde von da an nie wieder gesehen und der Wanderer starb bald darauf.